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Leben auf der Straße

Autor: jona

Das größte Geschenk von einem Odachlosen

Das größte Geschenk von einem Odachlosen

Mein Geburtstag. An diesem Tag wünsche ich mir ein besonderes Geschenk aus diesem Feld, in dem ich gerade unterwegs bin – eine besondere Lebenserfahrung oder was auch immer. Am Nachmittag gehe ich zur „Klagemauer“, wie Berti sie nennt. Das ist in der Nähe des Wohnheimes diese Nische mit Bänken am alten Friedhof an der Pauluskirche. Hier hängen fast immer einige Alkoholiker ab. Nur Paul ist dort, den ich schon von den Tagen zuvor kenne. Paul passt in das klassische Bild der Penner und sieht ein bisschen verkommen aus. Meist hat er schmutzige Kleidung an, lebt ganz auf der Platte, d.h. er ist nicht in der Unterkunft, sondern schläft in irgendeiner leer stehenden Halle am Bahnhof. Die Bundespolizei kennt ihn und duldet ihn dort. Er bekommt vom Sozialamt seine zwölf Euro täglich und sein wesentliches Interesse besteht darin, die notwendige Bierration für den Tag kaufen zu können, dann vielleicht auch etwas zu essen und irgendwie mit ein paar Leuten im Kontakt zu sein. Ich sah ihn bisher nur auf schwanken-den Beinen. Paul stinkt – vielleicht nicht auf drei Meter Entfernung, aber neben ihm zu sitzen, fordert schon heraus. Ob der mir etwas geben kann? Zwischen uns entwickelt sich ein Smalltalk und irgendwie habe ich gelauscht, ob es eine wesentliche Lebenserfahrung, etwas für mich zu Lernendes oder sonst etwas gibt. Paul kommt aus Thüringen. „Wo kommst du her?“ fragt er mich. – „Brandenburg.“ – „Wo in Brandenburg?“ – „Aus dem Havelland.“ – „ Das ist ein gutes Autokennzeichen!“ Und er erzählt ausführlich, auf welchen Sozialämtern er dort in den neunziger Jahren überall seine Tagessätze abgeholt hat – auch in N. Ich sage ihm, dass ich da ungefähr 20 Jahre gewohnt habe. Er hat ein fotografisches Gedächtnis und kann mir genau den Weg zu den verschiedenen Sozialämtern beschreiben. Ausführlich erzählt er aus seinem Leben, mit welchen Tricks er es geschafft habe, damals an ca. 400 bis 500 D-Mark wöchentlich zu kommen, und wo er überall war. Die Sozialämter waren noch nicht vernetzt. In manchen Bundesländern gab es Kleidungsbeihilfe für den Winter am Stück, in anderen monatsweise. So hat er sich im November an einer Stelle die Gesamtsumme geholt und dann in anderen Bundesländern noch einmal Monat für Monat. Er hat etwas Gewinnendes und so vielleicht manchen Helfer für sich eingenommen. In der DDR war er zweimal im Knast. Das erste Mal wegen „asozialen Verhaltens“. Daraus entnehme ich, dass es ihn früher schon auf die Straße gezogen hat und es ihm, warum auch immer, schwer gefallen ist, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Alkohol spielt in seinem Leben schon lange eine Rolle, ohne dass auszumachen ist, wo Ursache und Wirkung sind. Das zweite Mal saß er „politisch“ in Bautzen wegen versuchter Republikflucht. Die Geschichte ist grotesk. Er war auf dem Weg nach Eisenach, wo er in dieser Zeit arbeitete. Betrunken eingeschlafen verpasste er die Station. Es war einer jener Züge, die in den „Westen“ fuhren. Die Grenzkontrolle weckte ihn. Das brachte ihm zwei Jahre Haft wegen versuchter Republikflucht ein. Offenbar hat man die an sich klare Situation genutzt, um ein unliebsames „Element“ wieder eine Weile von der Straße zu bekommen. Er konnte nicht ahnen, dass sich das im wahrsten Sinn des Wortes später einmal auszahlen sollte. Die Zeit in Bautzen brachte ihm 12.000 DM Haftentschädigung. Das hat ihm für eine kurze Zeit ein großes Leben ermöglicht: Bahnfahren und Taxi, in Hotels übernachten und gut essen. Nach zwei Monaten sei das Geld verbraucht gewesen. Er strahlt mich an: „Und es tut mir nicht leid darum!“ Ich glaube ihm aufs Wort. Zwischendurch war er mal ein Jahr sesshaft, in Arnstadt. Dann ist er wieder losgezogen. Ob er Kinder habe? „Nicht, dass ich wüsste. Als Durchreisender habe ich hier und da eine Frau gevögelt. Was daraus vielleicht geworden ist, weiß ich nicht.“
Und plötzlich sagt er ganz unvermittelt: „In N. habe ich bei der Kirche geschlafen.“ Ich denke erst, ob er da irgendwo bei uns im Kirchengelände geschlafen hat. Aber er erzählt weiter: „Der Pfarrer in N., der hatte einen Wohnwagen im Hof. Da durfte ich schlafen. Am Morgen hat er mir zum Frühstück belegte Brötchen gebracht und hat mir noch fünf Mark mit auf den Weg gegeben.“ Ich bin fassungslos und sprachlos und weiß: Diese Begegnung ist mein Geburtstagsgeschenk! Es muss ca. 15 Jahre her sein, dass ich ihn beherbergt habe. Ich sage ihm nicht, dass ich diesen Pfarrer ganz gut kenne und er hat auch nicht danach gefragt. Das G-schehen bleibt mir ein Geheimnis, dem ich mit Dankbarkeit und Respekt begegne.
Ich glaube, dass Paul aus seinen Lebensumständen nicht mehr rauskommt und wohl auch nicht will. Er strahlt Zufriedenheit aus und mokiert sich über die Obdachlosen, die Übernachtungsheime nutzen. Das sind für ihn offenbar die Weicheier und sie seien nicht echt. So scheint es für jede Gruppe eine andere zu geben, auf die man herabsehen kann. Vielleicht wird Paul irgendwann auf der Straße sterben oder in einem Zustand aufgefunden werden, in dem er sich nicht wehrt oder wehren kann. Dann findet er sich vielleicht irgendwo in einem richtigen Bett vor. Mir wird bewusst, dass das, was ich als hoffnungslose Fälle ansehe, unter Umständen nicht deren Hoffnungslosigkeit ist, sondern die des Betrachters…

 

Die Wahl des richtigen Platzes als Obdachloser

Als Obdachloser ist die Wahl des richtigen Platzes entscheident für die Höhe der „Einkünfte“

 

Das Bettelgeschäft läuft schlecht. Ich wechsle den Platz. Innerhalb der nächsten zwei Stunden werde ich übersehen, überhört, bis mir eine Frau 70 Cent gibt. Spiele ich so schlecht? Na ja, ich habe keine Hits drauf oder Evergreens und so. So komme ich jedenfalls nicht weiter… Mit einem Brot aus dem Backshop im Rucksack laufe ich los auf einem Uferwanderweg und bin voller Erinnerungen an einen gemeinsamen Urlaub in Thüringen, in dem wir zu zweit an der Saale entlang geradelt sind.
Mein Blick hat sich verändert. Ich scanne die Landschaft und Grundstücke, wo mein nächster Schlafplatz sein könnte – dort eine Nische unter einer Brücke, da ein verfallener Hof und im Ortseingang von Schwarzenbach ein parkartiges Gelände, das einen Unterstand hat… Mein Weg führt zum Bahnhof, um zu sehen, wie ich unter Umständen weiter kommen könnte. Dann zum EDEKA-Markt. Ich setze mich vor die Tür und spiele auf der Mundharmonika. Was dann los geht, ist überwältigend. In meiner Mütze sammeln sich so viele Münzen, wie ich es bisher noch nicht erlebt habe. Auch Jugendliche sind unter den Gebenden. Eine Frau schenkt mir dazu eine Brezel. Auf der anderen Seite des Eingangs arbeitet in einem Dönerwagen ein junger Türke. „Haben Sie Hunger?“ Er macht mir einen Döner. Die Bierdose lehne ich freundlich ab, habe mein Wasser dabei. Er fragt, ob ich Kinder hätte. „Ja, vier, aber die sind alle schon groß.“ Das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Das gäbe es bei uns nicht! Da kümmern sich die Kinder um die Eltern, wenn sie in Schwierigkeiten sind! Kein Sohn würde seinen Vater auf der Straße sitzen lassen!“ Ich muss ihn beruhigen, so entrüstet ist er und ich versuche, ihm klar zu machen, dass das für mich im Moment in Ordnung ist…

 

 

Wo geht man als Obdachloser auf Toilette?

Am Vormittag hatte mein Restbestand von zwei Euro mich gerettet. Ich musste dringend auf die Toilette. Doch die öffentliche öffnete ihre Tür nur gegen 50 Cent. Das gehört zu den Problemen, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Wo geht man als Obdachloser am Tag aufs Klo? So mancher McDonald‘s hat Drehkreuze vor den Toiletten eingeführt. Später komme ich auf eine geniale Lösung. Man muss nur in einem Bahnhof nach einem bereitgestellten Zug schauen, dessen Abfahrzeit noch nicht ran ist…

 

 

 

 

 

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